Erzählungen

Die Chinesische Mauer
(Endfassung 2015)


Im Föhnsturm der Nacht war die dünne Schneedecke geschmolzen, nur noch an den flach ansteigenden Hängen des Talkessels hatten sich unter den Bäumen und an windgeschützten Stellen einige weiße Flecken behaupten können. Der Morgen war kühl, mit den letzten Windböen waren dunkle Wolken aufgezogen. Die Sicht war klar, die Luft roch nach Regen.
Er ging am schwarzen Lattenzaun vorbei, der an einem niedrigen Bahngebäude endete, erreichte die Gleisanlagen mit ihren langen Reihen wartender Güterwaggons und überquerte den noch unbelebten Platz. In seiner Mitte lag regungslos ein großer, schwarzer Hund, der nun aufsprang, auf ihn zu kam, bei ihm angekommen, stehen blieb und seine Schnauze vorsichtig nach vorne streckte, ohne ihn zu berühren, um dann dem Weggehenden noch für kurze Zeit Gesellschaft zu leisten.

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Schon am frühen Morgen war er aus dem Zug gestiegen. Die schier endlose Fahrt und die trübe Stimmung am Bahnhof hatten dazu beigetragen, den Eindruck, nun wirklich an einem fernen, fremden Ort angekommen zu sein, noch zu verstärken.
Während er am vereinbarten Treffpunkt auf sie wartete, betrachtete er gelangweilt verblichene Reklametafeln für Alkohol und Tabak, viel mehr gab es unter dem Dach des Bahnhofsvorplatzes nicht zu sehen.
Sie begrüßte ihn (nur) wie einen alten Bekannten, schien sich über seinen unerwarteten Besuch zu freuen und sie suchten gleich ein nahe gelegenes Lokal auf, wo sie ihn fürsorglich über die angebotenen Gerichte auf der kleinen Karte informierte. Der Kellner, den sie offenbar gut kannte, lachte, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und hob am Ende seines französischen Redeschwalls fragend die Hände?
Er hatte natürlich kein Wort verstanden und konnte nur mit hilflosem Lächeln antworten. Für ihn wurde etwas ausgesucht und während sie anfingen, sich zu unterhalten, fiel ihm auf, dass sie die an ihn gerichteten Fragen des Kellners nicht übersetzt hatte. Aber vielleicht war es ja auch gar nicht wichtig gewesen?
Nach dem Essen rückte sie mit der Nachricht heraus, dass ein Bekannter ihr seine zur Zeit nicht benötigte Garconniere als Unterkunft für ihn angeboten habe. Mehr als drei Tage würde er ja ohnehin nicht bleiben? Nur für zwei Nächte, stellte er klar, zwei Nächte, das wäre schön.
Während sie nach dem Kellner rief, um zu zahlen, kreisten seine Gedanken um Wolken, Wellen und Sand und er fragte sich, ob sein Entschluss vielleicht doch zu voreilig gewesen sein könnte, sie in diesem nicht sehr einladend wirkenden Kaff zu „überfallen“.
Er könne ja auch gleich seine Tasche in die Wohnung bringen, schlug sie vor. Es sei nicht weit von hier, nur um die nächste Ecke Der Schlüssel würde schon unter der Fußmatte vor der Eingangstür auf ihn warten.

Am zweiten  Abend besuchte sie  ihn in  seiner  Unterkunft  und  packte eine  Stange  Weißbrot,  Käse, Oliven und  eine  Flasche Wein  aus. Der Sturm  rüttelte an  den  Fensterläden,  hinter  den tropfnassen Scheiben tanzten die Lichter der Straßenbeleuchtung. Nach dem Essen setzte sie sich mit entschlossener Miene ihm gegenüber an das Kopfende des Bettes und hob ihr Weinglas. Bald war klar, dass sie in den nächsten Stunden nicht mehr als eine angeregte Unterhaltung zulassen würde. Ernüchtert musste er sich eingestehen, dass alle seine Versuche über dieses von ihr fixierte Ziel hinauszugehen, mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt sein würden. Während ihr Gespräch über „Gott und die Welt“ immer wieder drohte ins Stocken zu geraten, fing er an sich mit dem kräftigen Tabak filterloser Zigaretten aus den hier herumliegenden dunkelblauen Schachteln anzufreunden und vergaß auch nicht, sich ausgiebig Rotwein nachzuschenken.
Am Ende dieser etwas mühsam geführten Unterhaltung war das Zimmer voller Rauch. Sie öffnete das Fenster, packte ihre Sachen zusammen und meinte: Es wäre doch sehr schade, wenn sie sich vor seiner Abreise nicht mehr  sehen würden. Wenn es ihm recht wäre, würde sie ihn gerne morgen zu sich nach Hause zum Frühstück einladen und sie begann, zuerst den Weg zu dem Haus zu erklären, dann das Objekt zu beschreiben, in dem sie sich schon vor dem Beginn ihres Unterrichts  eingemietet hatte.


Seine dünnen Schuhe hatten zu viel Nässe abbekommen und fühlten sich nun auch innen feucht an. Die Straße führte in weitem Bogen unter der Bahnanlage hindurch und begann leicht anzusteigen. In einiger Entfernung war ein Eisenbahnviadukt zu erkennen, davor ragte ein mächtiger Silo aus dem grauen und rötlichen Gewirr von Dächern und Rauchfängen. Recht schnell war er am Ende der Steigung angekommen. Vor ihm lag die von ihr erwähnte Kreuzung.


In den ersten Nächten nach seiner Ankunft im Ferienlager lag er meist schlaflos in seinem Zelt, wartete bis die Kühle der Nacht sich auch im Inneren auszubreiten begann und versuchte die ständigen an und abschwellende Geräusche der Wellen am nahe gelegenen Strand aus seinen Ohren zu bekommen.
Tagsüber wehte auch an sonnigen Tagen oft schneidend kalter Wind und man war froh, auf den mitgebrachten Pullover und die gefütterte Windjacke zurückgreifen zu können.
Wo der harte, festgetretene Sandboden der Zeltanlage endete, begann der sich lang hinziehende flache Strand. Man musste einen Weg zwischen Dünen und langen, wippenden Gräsern finden. Bei jedem Schritt versanken die Füße im nachgebenden Rieseln des feinen Sandes. Das Ufer war übersät von Quallen, Muscheln, Seesternen und kleinen Krebstieren, die in der Sonne vertrockneten. Die See war hier nicht tief genug, das Wasser zu kalt, an richtiges Schwimmen war auch bei heißem Wetter nicht zu denken.


Er beobachtete die Wolkenformationen, während er seinen Weg fortsetzte. Die Villen zu beiden Seiten der Straße waren kleiner und unauffälliger geworden, keine Menschenseele war zu sehen.
Die Gärten wirkten ungepflegt, alles sah wie ausgestorben aus, vielleicht hatte man sich hier angewöhnt, solche Tage ganz einfach zu verschlafen. Die Kälte war nun deutlicher zu spüren. Feiner von Wind getriebener Regen sprühte aus niedrigen Wolkenbänken. An den Rändern der Straße wirbelte Laub. Windstöße zerrten an seinem Mantel. Ein älterer Mann, zwei Stangen Weißbrot unter dem Arm, überholte ihn auf einem lärmenden Moped.
Er war bei dem Haus angelangt, auf das ihre Beschreibung zutreffen musste, blieb stehen, vor sich ein schon in die Jahre gekommenes Gebäude in einem verwilderten, baumlosen Garten mit nackten Büschen. Kein Laut war zu hören, hinter einem offen stehenden Fenster der Mansarde bauschte sich ein Vorhang leicht im Wind.
Er stieg die Stufen hinauf, betrat den kleinen Vorplatz vor der Eingangstür. In ihrer oberen Hälfte war ein schon blind gewordenes gläsernes Viereck ins Holz eingelassen. Er läutete kurz, stieg dann die Stufen wieder hinunter und blieb am Rand eines abgeernteten Gemüsebeets stehen. Neben einer verrosteten Pumpe stand eine mit Wasser gefüllten Tonne, in der sich ein verhangener Himmel mit seinen Regenwolken spiegelte.


Seit seiner Ankunft waren erst wenige Tage vergangen, da wurde er zum Zelt der Lagerleitung gerufen. Es war gegen Abend, der Wind von der See hatte sich gelegt, die Luft war mild und roch nach Salz. Kurz vor dem Abendessen war es wie immer in der Zeltstadt laut geworden. Verschiedene Sprachen mischten sich mit lauter Musik. Gemächlich schlenderte er in Richtung Lagerzentrum, die ausgegangene Pfeife in der Hand, und versuchte den überall wuchernden stechenden Gräsern auszuweichen.
Gleich nach seiner Ankunft im Ferienlager war sie ihm schon aufgefallen. Mit ihrem blonden Haar und dem intensiven Blau ihrer Augen hätte man sie auch für eine Schwedin halten können. Bald hatte er erfahren, dass sie zum Team der Lagerleitung gehörte und dafür verantwortlich war, dass hier alles in geordneten Bahnen ablief.
Sie wartete schon vor dem Zelteingang auf ihn und kam nach der Begrüßung gleich zur Sache: Man habe erfahren, dass er an einer bekannten Kunstakademie studiere, da wäre es doch für ihn sicher kein Problem, hier die Leitung eines Zeichenkurses zu übernehmen. Englisch sollte doch sicher auch keine Hürde für ihn sein? Bezahlen könne man ihn leider nicht, aber ausreichend Geld für Zeichenmaterial sei kein Problem, er habe da völlig freie Hand! Sie würde sich freuen, wenn er vielleicht an einigen Abenden, sozusagen nach Dienstschluss, auch an den improvisierten Treffen des Teams der Lagerleitung teilnehmen würde. Heftige Bierexzesse seien leider dort an der Tagesordnung. Ihre blauen Augen schienen schelmisch zu lachen - aber das würde er schon überstehen!
Das letzte Licht der anbrechenden Dämmerung streifte ihr im Nacken zusammengebundenes Haar über dem dicken hellen Pullover. Ihre Vorschläge für die Planung dieses Kurses begannen an seinen Ohren vorbeizufliegen. Unter einem kurzen Leinenrock, attraktive sonnengebräunte Beine, neben ihren abgelegten Sandalen wippten nackte Füße im Sand. Dann nahmen seine Augen nur Lippen, die sich bewegten wahr, ihre Worte kamen bei ihm nicht mehr an.
Aber viel entscheidender als die gerade angebotene Aufgabe, eine Gruppe von Jugendlichen aus  verschiedenen Nationen drei Mal  in der  Woche in entspannter Atmosphäre zum Zeichnen zu motivieren, war sein Eindruck, in diesem Augenblick in einer anderen, aufregend neuen Welt angekommen zu sein.


Sie erwartete ihn vor der offenen Haustür. Geschickt schafften sie es die „Begrüßungsklippe“ zu umschiffen. Im Vorraum roch es nach ungelüfteter Kleidung. In einem geschmacklosen Kübel auf einem schwarzen Tischchen begegnete man einer dahin vegetierenden Zimmerpalme.
Er stieg hinter ihr die steile Treppe hinauf. Ihr Haar war nur flüchtig zurechtgemacht, als sie sich nach ihm umwandte, fielen einige blonde Strähnen über ihre Wange.
Im holzgetäfelten Treppenhaus brannte kein Licht. Oben angekommen, versuchte er etwas umständlich sich von seinen nicht ganz sauberen Schuhe zu befreien.
In ihrem Zimmer zog er seinen feuchten Mantel aus und legte ihn über das Messinggitter des Betts. Er vermutete, dass wahrscheinlich alle Untermietzimmer den gleichen deprimierenden Charme verbreiten würden. Wenig Auffälliges war zu sehen, ein alter Schrank mit geometrischen Ornamenten an den Türen, ein bequemer Polstersessel.
Im Raum war es unangenehm kalt. Er ging zu dem offenen Fester. Unter ihm glänzte ein Stück nasser Straße, dahinter lag ein ansteigender Hang mit Nadelwald.
Während er sich mit seinen Händen auf dem Fensterbrett abstützte, blickte er über seine Schulter zurück. Hinter einem Paravent mit ausgebleichten Blumenornamenten sprudelte kochendes Wasser. Geruch von aufgewärmten Brot. Leise klirrendes Geschirr und klapperndes Besteck. Sie war dabei sich offenbar um das angekündigte Frühstück zu kümmern.


An einem stürmischen Nachmittag hatten Busse die Bewohner des Feriencamps zur großen Schleuse gebracht.
Er stand eingekeilt unter ausgelassenen jungen Menschen, die bald anfingen sich zu langweilen und mit ihren lauten Gesängen das unorganisierte Durcheinander noch verstärkten. Von den Schiffen lachten dunkelhäutige Matrosen und winkten der ausgelassenen Menge am Ufer zu. Es war ihm gelungen einen Platz dicht hinter ihrer hellen Jacke zu ergattern. Ihr Haar roch herb, vielleicht nach eine Prise Meersalz.


Im großen Gemeinschaftszelt hatte man einen Tanzabend organisiert. Auf vibrierendem Bretterfußboden wurde zur Musik einer Amateur Dixieland-Band ausdauernd getanzt. Plötzlich war sie zwischen den Tanzenden aufgetaucht, bewegte sich beschwingt auf ihn zu und ihre Hände sagten: Er solle sich doch endlich aufraffen und zu ihr kommen.
Er sei ein sehr ungeschickter Tänzer, konnte er gerade noch murmeln. Sie lachte nur und meinte: Das sei hier nicht schwer und sie beide würden das schon hinbekommen. Er musste seine Hand auf ihren Rücken legen, der sich dann unter dem dünnen Stoff ihrer Bluse gut anfühlte. Er versuchte es mit einem etwas hilflosen Lächeln, während er den Schweiß unter seinem Hemd spürte.
Nach dem Tanzen besuchten sie den einsamen Strand unter einem blassen Sternenhimmel. Ein kleiner, hochstehender Mond hatte sein milchiges Licht über der Dünenlandschaft ausgebreitet. Sie überquerten die flachen, mit hohen Gräsern bewachsenen Hügel. Ihre Schuhe hielten sie in den Händen, denn der Sand fühlte sich angenehm warm an.


Wortlos deutete sie auf einen Sessel bei einem runden Tischchen nahe beim noch immer geöffneten Fenster. Sie hatte den Tee lang genug ziehen lassen, verteilte ihn jetzt in zwei Tassen und bestrich warm duftende Brotscheiben mit Butter. Sie hantierte mechanisch und, auch wenn man genau hinsah, war in ihrem Gesichtsausdruck nicht der geringste Anflug von schlechter Laune, oder gar Gereiztheit zu entdecken.
Empörung über ihr Verhalten begann in ihm aufzusteigen. Sie behandelte ihn mit dieser im Grunde gleichgültigen Nachsicht, mit der man ungezogene Kinder behandelt, deren schlechte Manieren kein Problem darstellen, weil sie ja ohnehin bald wieder verschwunden sein werden.


Der Sonntagmorgen, an dem die meisten Gäste des Zeltlagers in die große Stadt gebracht wurden, war sonnig und, da nur ein leichter Windhauch zu spüren war, auch angenehm warm. Auf der Wiese hinter dem Küchengebäude wurde für die kleine Anzahl der Zurückgebliebenen ein improvisierter Gottesdienst abgehalten.
Sie hatten beschlossen diesen Aktivitäten aus dem Weg zu gehen und  besuchten den menschenleeren Strand. Auch auf dem Wasser war kein einziges Schiff zu sehen. Zarte Seesterne und schleimige Quallen, von der Flut an Land getragen, warteten auf rettende Wellen, die sie wieder in ihren Lebensraum zurück spülen sollten.
Sie ließen zwei dicht nebeneinander laufende Fußspuren im feuchten Sand zurück und waren bemüht, nicht auf scharfe Muscheln und angeschwemmte Metallteile zu treten.


Sie trank im Stehen ihren Tee. Als sie bemerkte, dass sie beobachtet wurde, setzte sie sich in den komfortablen Polstersessel, weit genug von ihm entfernt, um auf diese Weise zu demonstrieren, dass sie auch heute jeden seiner Versuche, ein für sie erledigtes Thema wieder aufzugreifen, mit aller Entschlossenheit verhindern würde.
Er starrte mit beleidigter Miene auf den hässlichen Paravent, der gut zur Kälte im Raum passte, und sagte kein Wort. Sie schwieg ebenfalls, hatte Tasse und Teller auf dem Fußboden abgestellt, sah zum immer noch offen stehenden Fenster, während sie Unterarme und Hände auf die gepolsterten Lehnen der behäbigen Sitzgelegenheit legte.


Das große Schiff, von Möwen begleitet, farbig beleuchtet und leicht schwankend in der Dünung der Förde, hatte die ganze Feriengesellschaft aufgenommen. Von der anbrechenden Dämmerung bis in die tiefe Nacht sollten sich die jungen Leute amüsieren. Auf dem überfüllten großen Oberdeck dröhnten Lautsprecherboxen, es wurde heftig getanzt, viel gegessen und ordentlich getrunken.
Im Gedränge dieser ausgelassen lärmenden Gesellschaft hatte er sie aus den Augen verloren. Auf dem Unterdeck hatte er nur mit Mühe zwei freie Plätze gefunden. Nach ihr zu suchen war unmöglich, die Sitze wären im Handumdrehen von anderen Teilnehmern dieser chaotischen Party belegt worden. Die sich kräuselnden Wellen hatten begonnen mit der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht zu verschmelzen. Die Schiffsmaschine verbreitete andauerndes Vibrieren, das sich auch in seinem Körper breitgemacht hatte.
Plötzlich war sie da, zwängte sich neben ihn, stellte die mitgebrachten Gläser und Getränke auf dem Tischchen ab. An sie gelehnt, begann ihn in diesem noch zusätzlichen sanften Schwanken eine entspannte Müdigkeit zu überwältigen.


Sie hatten am Stand eine Mulde entdeckt, die einigermaßen vor dem stetigen Wind schützte. Er hatte einen Wasserbecher im Sand fixiert, Pinsel, Farben und Papier vor sich hingelegt und wusste gleich, dass es in dieser kurzen Zeitspanne sehr schwer werden würde, charakteristische Merkmale ihrer Gesichtszüge und den Ausdruck ihrer Stimmung in einem Porträt festzuhalten.
Beim Arbeiten wurde er von geradezu euphorischer Stimmung überwältigt, die alle Hindernisse beiseite schob und ihn sicher und schnell vorankommen ließ. Am Ende lag das skizzenhaft hingeworfenes Ergebnis in hellen Farbtönen und angedeuteten expressiven Formen vor ihnen im Sand.


Nun hing in einem schmalen Rahmen dieses Werk an der Zimmerwand und schien sich gegen seinen Schöpfer verschworen zu haben. Nicht der leiseste Hauch von Strandromantik, nicht die geringste sentimentale Regung leuchtete aus dem Geflecht von Farbflächen und Pinselstrichen, die ihre Gesichtszüge formten.
Im Gegenteil - harte blaue Augen über einem fest geschlossenen Mund blickten kühl und herausfordernd. Das Abbild an der Wand und sein Gegenüber im Fauteuil waren sich in diesem Augenblick sehr nahe gekommen.


Am letzten Abend wurde ein Abschiedsfest für die Gäste des Zeltlagers veranstaltet, man saß in Decken gehüllt auf Schlafsäcken um ein mächtiges Feuer, das am Strand laut knisterte. Die Stimmung unter den jungen Leuten war ausgezeichnet, man scherzte, trank was noch übrig war, lachte viel und beobachtete die hoch auflodernden Flammen mit ihren Kaskaden von Funken, die in der Dunkelheit als Sternschnuppen verglühten.


Sie war aufgestanden, goss Tee in seine Tasse, reichte ihm den Teller mit den restlichen Brötchen und begann sich nach für ihn völlig belanglosen Dingen zu erkundigen. Er reagierte so wortkarg, dass sie ihre Fragen bald wieder einstellen musste.
An der Truhe lehnte ihre Gitarre. In ihrer auffälligen, dunkelgelben Lackierung wirkte sie eindrucksvoll, vielleicht sogar ein Instrument von überdurchschnittlicher Qualität, das schon älter zu sein schien und auf dessen Oberfläche man einige, wenn auch nicht auffällige Spuren vom Gebrauch erkennen konnte. Er war sich ziemlich sicher, dass er es schon damals in ihrem Zelt gesehen hatte.
Sie hatte sich wieder in ihren bequemen Fauteuil zurückgezogen, den Korpus in ihren Schoß gelegt, und es war ihr anzusehen, dass sie nicht ganz bei der Sache war, als sie versuchte die Saiten zu stimmen.


Im Labyrinth des Hauptbahnhofs angekommen, hielt er sofort Ausschau nach einem Ort, wo er wenigstens für einige Augenblicke den ständig abgehaltenen Wiedersehens- und Abschiedszeremonien entkommen konnte.
Nach dem Eintreten in die WC-Anlage stand er einige Momente, ohne sich zu bewegen, sah vor sich in das Urinoir und versuchte sich auszumalen, wie sein Abschied in einigen Minuten draußen auf dem Bahnsteig über die Bühne gehen würde. Dann kehrte er wieder zurück in die schon vertraute Welt der Gerüche von Schweiß, Eau de Toilette, gebratenen Würstchen, Tabakrauch und warmem Bier.
Leere Pappbecher landeten in schon übervollen Müllbehältern oder auf den Fliesen der Bahnsteige. Nicht mehr benötigte Zeitungen wurden auf Tischen und Sitzgelegenheiten liegen gelassen, bis andere Reisende sich ihrer bemächtigten. Lautsprecherdurchsagen wurden ernst genommen, nicht verstanden oder einfach ignoriert. Kinder sahen mit großen Augen diesem Treiben zu und Frauen in grauen Kitteln schoben mit gleichgültigen Mienen breite Besen über den matt glänzenden Steinboden.
Er wollte sie nicht bis zu ihrem Zug begleiten, hatte für sie eine Zeitschrift besorgt, die sie sicher auch irgendwo liegen lassen würde. Sie umarmten sich schnell und professionell, dann blieb er stehen und blickte ihr nach, bis sie in der Menge untergetaucht war.
Es war noch Zeit, sein Zug fuhr erst später. In einem großen Geschäft für Tabakwaren wählte er bei einem versierten Verkäufer eine für seinen Geschmack passende Sorte Pfeifentabak, wusste aber schon jetzt, dass er es nie schaffen würde, die Dose zu öffnen.


Sie hatte begonnen auf der Gitarre zu improvisieren und summte leise zu den angeschlagenen Tonfolgen. Er stand auf, stellte Teller und Tasse ab.
Es wäre jetzt an der Zeit, überlegte er, klarzustellen, wie die Sache zwischen ihnen abgelaufen sei. Damals im Lager wäre er, der Naive, Unerfahrene, so sehe er das jedenfalls, von ihr ganz einfach „in den Sack gesteckt“ worden. Nein, keine Vorwürfe - ihm habe das „Katz-und-Maus-Spiel“ ja auch Spaß gemacht und und immerhin war in diesen Ferienwochen eine einmalige, sehr intensive, Ferienbekanntschaft entstanden.
Er hatte sich wieder hingesetzt, warf dem geöffneten Fenster mit seiner Kälte feindselige Blicke zu, aber brachte kein Wort heraus und schwieg. Seine Verstimmung war unübersehbar geworden.
Während der halbherzigen Beschäftigung mit ihrem Instrument hatte sie ihm immer wieder kurze Blicke zugeworfen. Irritiert von seiner finsteren Miene brach sie ihr Spiel ab, stand auf, legte das Instrument in den Stuhl und kam, ohne ein Wort zu sagen, auf ihn zu.
Seine Hände suchten ihre Hüften und er zog sie behutsam etwas näher zu sich heran. Er konnte die leichte Berührung ihrer Hände an seinen Schultern und den sanften Druck ihrer Brüste spüren. Sein Blick folgte der Linie ihres Halses bis zum Ohr und Haaransatz, während seine Nasenspitze an ihr Ohrläppchen stieß. In leichter Umarmung standen sie sich so einige Augenblicke regungslos gegenüber.
Durch das offene Fenster drang der ferne, langgezogene Pfiff einer Lokomotive, der sie beide im nächsten Moment zwei Schritte zurücktreten ließ.
Jetzt hatte er es endlich mit aller Klarheit begriffen. Sein Besuch musste hier ganz einfach an einer „Chinesischen Mauer“ enden. Er griff nach ihren Handgelenken. Die Garconniere habe er aufgeräumt, Wein und eine Zeichnung als Dankeschön dagelassen. Der Schlüssel liege am üblichen Ort unter der Fußmatte.
Er zog seinen immer noch feuchten Mantel an. Sie begleitete ihn zur Eingangstür. Im düsteren Vorraum strich er unbemerkt über das staubige Graugrün der Zimmerpalme und für den Bruchteil eines Augenblick sah es so aus, als hätte ein schwacher Lichtreflex das alte Glas der Eingangstür gestreift.
Sie standen auf dem kleinen Podest vor der Haustüre - sahen aneinander vorbei. Mit dem einsetzenden Regen war es noch kälter geworden. Er stieg vorsichtig über die nassen, von Moos bewachsenen Stufen hinunter, hob, während er den Vorgarten durchquerte, eine Hand vage winkend in die Höhe, ohne sich dabei umzudrehen. Sie würde sich über ein schriftliches Lebenszeichen von ihm freuen, erklärte sie hinter ihm. Vor dem offen stehenden Gartentor standen Wasserpfützen, eigentlich, so kam es ihm vor, waren es kleine Seen und im nächsten Moment sah er sich unter einem heißen, wolkenlosen Sommerhimmel auf dem Grund einer riesigen Schottergrube, am Ufer eines tiefblauen Teichs völlig entspannt nackt in der Sonne liegen. Die Schatten des Schilfs flimmerten auf der sich kräuselnden Wasserfläche. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Der Wind wehte Geräusche einer schwer arbeitenden Lokomotive, ihren Rauch und das Rattern vorbeifahrender Güterwaggons zu ihm in die Grube. Im Schatten der Sträucher hoppelten Hasen über den Schotter. Hoch oben im strahlenden Blau zog ein Raubvogel seine bedächtigen Kreise.
Auf seinem Kopf spürte er die Nässe des Regens. Er hatte die Miniaturseenlandschaft bei der Einfahrt gekonnt umgangen, das knarrende Tor wieder zugeschoben und war am Rand der Fahrbahn stehengeblieben. Er wandte sich zurück, um noch einen letzten Blick auf seine Gastgeberin zu werfen. Aber der Vorplatz beim Eingang war leer, die Haustür geschlossen.

Weiche Schärfe
(November 2010)


Auf dem verwahrlosten Mittelstreifen, der die gegenläufigen Fahrbahnen der Schnellstraße voneinander trennt, hat sich exakt an der Stelle, wo der kürzeste Weg von der Haltestelle zum Einkaufszentrum verläuft, im Laufe der Jahre eine flache, festgetretene Vertiefung in den Boden eingeprägt.
Bei regnerischer Witterung verwandelt sich diese graslose Senke in eine trübe Wasserlacke. Schmutzige Trittspuren ziehen sich in der kalten Jahreszeit über ihre zugefrorenes, oft von Sprüngen gezeichnete Eisfläche.
Begegnet er dann auf dem Weg zur oder von der Straßenbahn dem erstarrten Oval, kann er der Versuchung meist nicht widerstehen, diesen Eislaufplatz für Zwerge in möglichst eleganter Bewegung gleitend zu überqueren.


Das vorgebeugte Lächeln steht Tag für Tag, während der Öffnungszeit des Supermarkts gleich neben dem Ausgang, ein Exemplar einer  Obdachlosenzeitung in der Hand. Auf einem Plastiksack neben sich auf dem Boden hat er weiteren vermutlich unverkäuflichen Lesevorrat ausgelegt.
Meistens ist nicht viel los, aber zu bestimmten Tageszeiten bewegt sich eine endlose Kolonne mehr oder weniger beladener Drahtkörbe metallisch scheppernd auf quietschenden Rädern in Richtung Parkplatz an ihm vorbei.

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Irgendwann bekommt auch er eine Münze in die Hand gedrückt. Der Einsatz aus einem zurückgestellten Einkaufswagen, den man gerade jetzt nicht in seiner Geldbörse unterbringen kann, weil sie in der vollgepackten Einkaufstasche ganz nach unten gerutscht ist. Aber seine Zeitschrift wird er bei dieser Gelegenheit auch nicht los.
Er schenkt ihm ein altes Handy samt Ladegerät und eine Reisetasche aus Kunststoff, aus dem Besitz seines gerade erst verstorbenen Vaters, wobei die Tasche dem Bulgaren offenbar viel mehr Freude bereitet als das Mobiltelefon.
Nach der Überreichung dieser Geschenke wird er vom Lächeln aus dem Osten jedes mal mit einer tiefen Verbeugung begrüßt.
Im verbogenen Fahrradständer vor dem Billigschuhladen stellt er sein Rad ab, wenn gegenüber in der Apotheke oder im Supermarkt Besorgungen zu erledigen sind.
Dann ersucht er den Lächelnden und sich Verbeugenden das unversperrte Fahrrad im Auge zu behalten, während er seiner Einkaufstätigkeit nachgeht.


Eine Station vor der Lacke, dem Obdachlosenblatt und dem Fahrradständer steigt er aus der Straßenbahn.
Vor dem Zebrastreifen drängt sich eine ungeduldige Autoschlange zusammen, er beeilt sich über die Fahrbahn zu kommen und biegt in die vor ihm liegende Seitengasse ein. Rechts das altbekannte, niedrige Eckhaus mit der Gaststätte. Gegenüber, auf der linken Seite die schon wieder renovierte Bankfiliale in dem mehrere Stockwerke hohen Vorstadtgründerzeithaus.
In dieser Seitengasse verlaufen sich die Geräusche des Verkehrs sehr schnell.  Auch nicht die kleinste Bewegung lässt sich erkennen. Diese Leblosigkeit dieses Orts erscheint ihm plötzlich so unwirklich, dass er sich nach der Schnellstraße in seinem Rücken umdreht, wo mit größter Selbstverständlichkeit und Hingabe der Fahrzeugstrom dahinrollt.
Dann trifft er auf die eingeschossigen, kellerlosen Häuser, die immer schon da gewesen sind. Einige Objekte wurden renoviert und scheinen auch bewohnt zu sein, andere hat man schon vor längerer Zeit aufgegeben. Zerfallene, rostige Zäune werden vom meterhohen Staudendickicht ihrer Vorgärten überwuchert. Hinter morschen Fensterstöcken und gesprungenem Glas wellen sich verblichene, von dunkelbraunen Wasserflecken gezeichnete Rollos.
Zwei, drei, schon etwas in die Jahre gekommene Prostituierte, haben im rückwärtigen Bereich dieser ebenerdigen Bauernhäuser, in deren langgezogenen, romantisch anmutenden Höfen zwischen Gemüsegärten und Obstbäumen Hühner und Gänse nach Futter suchen, sowohl ihren Wohnsitz als auch ihren Arbeitsplatz eingerichtet.
Diese Information wird dem jungen Postzusteller, der in seinen Sommerferien als Urlaubsvertretung einzuspringen pflegt, von einem erfahrenen Kollegen, der sich in diesem Rayon bestens auskennt, mit auf den Weg gegeben. Ergänzt wird diese Mitteilung noch durch die Bemerkung, dass er sich, im Gegensatz zu Hunden, die ja das geradezu klassische Feindbild der Briefträger verkörpern, vor diesen Damen keineswegs zu fürchten brauche, da sie für ihr nettes und freundliches Verhalten im Umgang mit dem Postpersonal bekannt seien und außerdem bereit, für jede vom Postboten persönlich durchzuführende Zustellung ein großzügig bemessenes Trinkgeld herzugeben.
Aber er bekommt diese Vertreterinnen käuflicher Liebe dann doch nie zu Gesicht, da während der ganzen Zeit seiner Tätigkeit keine persönliche Überbringung einer Postsendung an eine dieser geheimnisumwitterten Adressen durchzuführen ist.


Im Laden der Gärtnerei findet er einen Strauß violetter Kunstblumen. Eine verschlafene Angestellte bringt ihn zu dem Gestell mit langlebigem Grabschmuck. Er wählt einen kleinen, dicken Kranz von moosartiger Beschaffenheit, der, um seine Attraktivität noch zu steigern, mit einigen blassen, künstlichen Blüten und einer silbrig glänzenden Masche ausgestattet wurde.
Er bemerkt, wie intensiv es in diesem Laden nach feuchtem Humus und nach offenbar hier angebotenen besonderen Blumensorten riecht. Vermutlich  speziell für  Aufbahrungshallen  und  zum  Schmuck  von  Gräbern gezüchtet, präsentieren sie nicht nur ihre an diese Orte der Vergänglichkeit perfekt angepassten äußeren Erscheinungsbilder, sondern leisten auch mit Hilfe ihrer Düfte einen entscheidenden Beitrag zur vollen melancholisch geprägten Bandbreite von Friedhofsgerüchen.
Als er bezahlen möchte, fällt ihm ein, dass er noch ein Grablicht braucht, Zünder ausborgen und auch noch eine der neben dem Eingang aufgereihten Gießkannen ausleihen möchte. Die schläfrige Verkäuferin hat es geschafft, Grablicht, Kranz und Kunstblumen zusammen in einem Plastiksack zu verstauen und überreicht das von ihm großzügig abgerundete Wechselgeld.
Die Gießkanne sei kein Problem, meint sie, aber sie dürfe ausnahmslos nur auf dem neben dem Geschäft gelegenen Friedhofsareal verwendet werden. Die Zünder seien aber ein Problem, fährt sie nun schon etwas verlegen fort, natürlich hätten sie im Geschäft Zünder, verkaufen oder herleihen dürften sie diese allerdings nicht - auf gar keinen Fall - Befehl der Chefin! Sie seufzt tief auf und die hinter ihr mit Trauerblumenbinden beschäftigte Kollegin sucht diesen Sachverhalt offenbar zu bekräftigen, indem sie, über ihre Arbeit gebeugt, mehrere Male heftig nickt.
Er steckt das Wechselgeld ein, nimmt den Sack, geht zur Tür und wählt eine gelbe Plastikkanne aus, auf der mit breitem, schwarzem Filzstift „GÄRTNEREI MOSER“ geschrieben steht.
Als er aus dem Geschäft tritt, bemerkt er gegenüber in einiger Entfernung die bunten, schon ziemlich verblichenen Farbtöne eines großen bauchigen Zelts hinter einer Reihe von niedrigen Zirkuswägen. Auf seinen beiden Masten flattern farblose Fahnen im nun heftig aufkommenden Wind.
Unter seinen Schuhen knirscht Kies. Die Türen der Halle sind weit geöffnet. Im der Stille des Hintergrunds wartet ein vom Schein vieler Kerzen stimmungsvoll ins rechte Licht gerückter Sarg, umgeben von Kränzen mit ordentlich ausgelegten Schleifen.
Noch sind keine Teilnehmer zu dieser bevorstehenden Zeremonie erschienen und er hat überhaupt kein Interesse sich über diesen Verstorbenen im schwarzumrandeten Zettel an der Tür zu informieren. Ein Angestellter der Bestattungsfirma überprüft Papiere. Er wirft einen „gehört-nicht-zu-dieser-Veranstaltung-Blick“ auf die vor dem Eingang stehende Person mit Plastiksack und gelber Gießkanne.


Für diesen feierlichen Anlass hat der Rumäne vermutlich seinen attraktivsten Trainingsanzug aus dem Schrank geholt und mit den dazu passenden makellos weißen Laufschuhen ist es ihm gelungen, seine festliche Erscheinung sehr eindrucksvoll abzurunden.
Auf einem Tischchen an der Seitenwand der Halle steht die Urne zwischen zwei Ständern mit brennenden Kerzen. In ihr sollen sich Aschenanteile, von einem Sarg, Anzug, Unterhose, Hemd und Socken - und von seinem Vater  befinden.Er betrachtet den im milden Licht der Kerzen schimmernden, seriengefertigten Topf aus Kupferblech, den er, davon ist er fest überzeugt, ganz nach dem Geschmack des Verstorbenen ausgesucht hat und dessen elegante Formgebung offenbar auch Daniel, den neben ihm stehenden rumänischen Pfleger, der seinen Vater bis zuletzt betreut hat, sehr beeindruckt.
Die beiden Angestellten des Bestattungsunternehmens haben sich unmerklich ins Bild gedrängt. In ihren skurrilen, schon in die Jahre gekommenen Uniformen, deren Höhepunkt fastnachtsartig wirkende schwarze Samthauben mit schmalem, nach oben gebogenem Rand darstellen, lassen sie erkennen, dass sie nun gleich beginnen werden, in ihrer Kostümierung mit darauf abgestimmten Bewegungen und leeren Trauermienen die Hauptrollen in der nun folgenden Zeremonie zu verkörpern.
Er und sein rumänischer Begleiter treten unwillkürlich zurück und geben so das Startzeichen für das nun zur Aufführung gelangende Trauerspiel.
Der ältere, korpulente Angestellte hat die Urne feierlich angehoben und sie auf ein Metallgestell geschoben, das der jüngere Kollege vor seine samtene Brust geschnallt hat.
Beide setzen sich nun gemessenen Schrittes Richtung Grabstätte in Bewegung. Mit einer knappen Handbewegung fordert der Dicke die zwei Trauergäste auf, sich dem Urnenträger anzuschließen.
Am Ort der Beisetzung angekommen, hebt er das kupferne Gefäß aus dem Gestell des Trägers. Die Urne wird von dicken Schnüren gehalten und mit Hilfe dieser Kordeln senkt er sie nun bedächtig in das nicht sehr tiefe Erdloch, das man in der von der verschobenen Steinabdeckung freigegebenen Ecke des Grabes ausgehoben hat.
Die beiden Darsteller haben sich nach Abschluss dieser Beisetzungszeremonie ein wenig von den beiden Trauernden entfernt, verbleiben aber in respektvoll angemessener Reichweite, um das nun fällige Trinkgeld nicht zu verpassen. Erst jetzt bemerkt er, dass diese armen Teufel bei dieser Hitze auch noch feste, schwarze Handschuhe tragen.


Die Grabplatte befindet sich nun schon längst wieder an ihrer ursprünglichen Position und die Fugen wurden ordentlich abgedichtet. Am Grabstein hat man Buchstaben und Zahlen der neuen, nach seinen Angaben ausgeführten Inschrift fachmännisch den Formen der schon vorhandenen älteren Schriftzeichen angepasst.
Nachdem er den vorgefundenen, schon ganz zerfallenen Kranz und die verblichenen Kunstblumen im Abfallcontainer entsorgt hat, füllt er die Plastikkanne im steinernen Wassertrog und beginnt, die dunkle Schmutzschicht, die sich auf der Oberfläche der steinernen Abdeckung des Grabes gebildet hat, mit Wasser aufzulösen und mit einem kleinen Kehrbesen, den er hinter dem Grabstein entdeckt hat, wegzukehren. Um diese Reinigung erfolgreich durchführen zu können, benötigt er einige Kannen Wasser.
Nach Abschluss dieser Arbeit ist der Besen, nun im Zustand totaler Auflösung, für weitere Kehrtätigkeiten nicht mehr zu gebrauchen. Aber die Oberfläche der Platte macht nun einen ordentlichen Eindruck.
Wolken ziehen tief und rasch, von böigen Windstößen angetrieben. Teilnehmer einer Beerdigung haben sich auf den Rückweg gemacht. Sie halten ihre Kopfbedeckungen fest. Zwischen wehenden Blättern flattern bescheidene und protzige Trauergewänder.
Er schneidet der Gruppe den Weg ab, hält ihnen sein Grablicht entgegen, bekommt ein Feuerzeug und nach einigen erfolglosen Versuchen flackert ein dünnes Flämmchen in der Laterne der Grabstelle.
Er legt den neuen, dicken, moosigen Kranz, der schon bei behutsamster Behandlung dazu neigt, Bestandteile in bröseliger Form abzusondern, auf die nur mehr an wenigen Stellen feuchte Grabplatte und ordnet die violetten Plastikblumen in der Vase vor dem Grabstein.
Besen und Plastiksack hat er im Müllcontainer untergebracht, alles ist erledigt, nur die gelbe Kanne steht noch da. Immer wieder rieselt ein von Sturmstößen in Bewegung gesetzter Blätterregen auf Gräber, Wege und auf ihn nieder.
Vorsichtig zieht er die in weiches Tuch eingeschlagene Kamera aus seiner Umhängetasche. Er wickelt die Leica aus der Schutzhülle und nimmt den Deckel vom Objektiv.

Die Beliebtheit des 90mm-Objektivs liegt in seiner Flexibilität. Man kann wirklich viele fotografische Aufgaben allein mit dieser Brennweite ausführen.

Der Sturm weht Blätter und einzelne Regentropfen gegen den Apparat. Schützend hält er seine Hand vor die Frontlinse. Er steht da, ohne sich zu bewegen, beobachtet die leere Plastikkanne, die der Windstoß gegen eine der Grabeinfassungen getrieben hat. Sein Blick sucht zwischen schwankenden Friedhofsbäumen nach dem letzten Ausläufer der Karpaten, einem langgezogenen Hügel, an dessen höchster Stelle ein riesiger Sendemast errichtet wurde, der weit über ein halbes Jahrhundert lang Radioprogramme ausstrahlte und als unübersehbares Wahrzeichen dieser Gegend fungierte, bis man vor einigen Monaten diesen Mast, weil er nicht mehr benötigt wurde, von seinem Rücken abmontiert hat.

Der M-Sucher zeigt den 90mm-Rahmen innerhalb eines größeren Umfelds. Es ist leichter als bei der Spiegelreflexkamera, den Augenblick vorherzusehen, in dem sich alle Elemente zu einer Aussage zusammenfügen, denn bei der Spiegelreflexkamera isoliert der Sucher den Fotografen von der Umgebung des Bildes.

Aus den rasch dahin ziehenden Wolkenbänken sprüht leichter Nieselregen. Er bückt sich nach der Gießkanne, hebt sie auf und stellt sie auf einem Grab ab. Er hält die Leica am Objektiv und schiebt sie  unter seinen Regenmantel.

Das SUMMICRON-M 1:2/90mm wurde 1980 mit viel geringerem Gewicht (460g) und mit 5 Gliedern (gegenüber 6 des Vorgängers) eingeführt. Zwei Linsenflächen sind plan, was die Kosten senkt, jedoch auch die Möglichkeit zusätzlicher  Korrektur  einschränkt. Bei voller Öffnung hat das SUMMICRON-M 1:2/90mm mittleren Gesamtkontrast, sehr feine Details werden mit unscharfen Kanten im überwiegenden Bildfeld aufgezeichnet. Dieses Verhalten hat man als „weiche Schärfe“ bezeichnet.

Ein Streifen föhnig blauer Himmel kann sich plötzlich in dieser Wolkenflut behaupten und auch der feine Sprühregen hat sich verzogen. Er fixiert den Deckel auf der Optik und wickelt das Tuch wieder um die Kamera.

Bei 1:5,6 erreicht das SUMMICRON-M 1:2/90mm sein Optimum mit hervorragender Leistung im axialen Bereich und etwas geringerer Leistung in den äußeren Bildzonen. Bei 1:8 werden diese Zonen leicht schärfer und das gesamte Bild zeigt jetzt hohen Kontrast und gestochen scharfe Wiedergabe extrem feiner Details.

Auf der Rolltreppe nach oben, direkt vor ihm, drei Männer, nicht zu übersehen, so dicht nebeneinander gedrängt, dass sie mit ihren fest zupackenden, aber auf den ersten Blick doch irgendwie freundschaftlichen Umarmungen die ganze Treppenbreite verstellen.
Doch dann verschwindet aus dem nach oben gleitenden Bild mit einem Schlag jede Spur von hemdsärmeliger Männerfreundschaft. Zwei kleine Kerle in verwaschenen Sportjacken haben einen großen dunkelhäutigen Burschen in die Mitte genommen und sich in seine Oberarme verkeilt.
Unter der um seine Unterarme geschlungenen Trainingsjacke tauchen einen Augenblick lang auf dem Rücken gekreuzte Hände auf, die Gelenke eng umschlossen von Handschellen.



Kursiver Text:
Erwin Puts: Leica M Objektive – Ihre Seele und ihre Geheimnisse
September 2002 / de.leica-camera.com



Basalt
(2016/17)


Ursprünglich Fitnesstrainer, begabter Freizeitmusiker, mit den Jahren durch harte Arbeit, auffällige Begabung und eigene Ideen schnell von regionaler Bekanntheit zu einer fixen Größe in der heimischen Musikszene aufgestiegen. Unterhaltungsprofi für eine spezielle, gar nicht so kleine Publikumsschicht, die er im Lauf der Zeit gut in den Griff bekommen hat und die seine musikalischen Darbietungen und die Art und Weise, wie er sie zu präsentieren vermag (echt, klar, ehrlich), zu schätzen gelernt hat.
Mit weit ausholenden Schritten, den Kopf nach vorne geschoben, ein witternder Stier, der keinen Gegner zu scheuen braucht, so hat er rasch im dicht belebten Hin und Her der Passanten den Rand des Gehsteigs erreicht. Aber dem, der ihn entdeckt hat, kann er nicht entwischen und bleibt sofort stehen.
Dem Rufenden wirft er eine gebellte Begrüßung zu, dann kommt sein „Wie-schön-dich-zu-treffen-Lächeln“ näher und endet in der ein wenig bemüht wirkenden Frage, ob sein Gegenüber immer noch in jenem alten Städtchen wohne?
Dieser geht auf die Frage erst gar nicht ein, möchte vielmehr von ihm wissen, ob er über den momentanen Zustand seines alten Sportkollegen W. informiert sei?

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Der Angesprochene ringt, während er heftig an seiner eben angezündeten Zigarette zieht, mit bekümmerter Miene um eine Antwort. Natürlich sei er schon seit einiger Zeit immer wieder mit betrüblichen Informationen über den Verlauf der Erkrankung seines Sportkameraden konfrontiert worden. Furchtbar sei das alles, wirklich schlimm!
Nun wird ihm eröffnet, dass W. nun an seiner letzten Lebensstation angekommen sei. Schon vor einigen Tagen habe man ihn ins Hospiz verlegen müssen, Zustand äußerst kritisch, keine feste Nahrung mehr, nur noch Infusionen, kaum noch ansprechbar. Es sei leider nur noch eine Frage von wenigen Tagen.
Dieser düstere Bericht wird von dem schon seit einigen Jahren auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit Angekommenen zunächst mit heftigem Augenrollen, dann nach tiefen Zügen auch von unkontrolliert ausgestoßenen Rauchwolken begleitet, während ein an der Spitze seiner Zigarette dramatisch anwachsender Aschenkegel dieser Szene noch den letzten Schliff verleiht.
Das sei alles so furchtbar, ruft er ein zweites Mal noch lauter als zuvor, um sich in dem ihn umgebenden Lärmpegel Gehör zu verschaffen. Aber dann fällt mit einem Schlag das Kartenhaus seines Mitleids in sich zusammen. Während er den Rest der Zigarette unter vorbeieilendes Schuhwerk wirft, erklärt er, dass er sich jetzt gleich verabschieden werde. Ohne dazu seine Uhr bemühen zu müssen, stellt er fest, es sei leider schon spät geworden und er habe Unterricht am Konservatorium. Seine Studierenden könne er nicht länger warten lassen.
Lächelnd drückt er die Hand seines Gegenübers, dreht sich um, springt vom Gehsteig und eilt mit weit ausholenden Schritten über die zu diesem Zeitpunkt sehr frequentierte Fahrbahn. Aber kein Personenkraftwagen, kein Linienbus, auch keine Straßenbahn lässt sich dazu hinreißen, ihn während dieser Überquerung zu überfahren. Selbst die Möglichkeit einer auch nur im Ansatz gefahrvollen Situation will sich zu diesem Zeitpunkt nicht einstellen und so erreicht er problemlos den Gehsteig auf der gegenüber liegenden Straßenseite, ist im nächsten Moment schon in der Menge der Passanten untergetaucht und, während er überlegt, welches Programm er in den nächsten zwei Stunden abspulen wird, wiederholt er vor sich hin murmelnd einige Male „Sehr bedauernswert, schlimme Geschichte“.
Nein, um ehrlich zu sein, besonders gemocht hat er ihn nicht, diesen W. Einer, der übrigens viel öfter als er, also sicher einige Male in der Woche, an fußballerischen Ereignissen teilgenommen hat. Technisch sehr versiert, aber  vom Typ her filigran - eben ein richtiger Hallenfußballer. Kein Kämpfer so wie er, der durchzieht, die Situation erkennt, sie für sich ausnützt und die gegnerische Verteidigung mit einem überraschenden Spielzug aufreißt.
Übersicht hat dieser W. schon gehabt, das muss man ihm lassen, schnell, trickreich, aber verspielt, eben wenig Durchsetzungsvermögen. Und wehleidig war dieser Typ. Selbst wenn man ihn bei einem Zweikampf leicht angestreift hat, nur ein Hauch von Körpereinsatz, bedeutete das für ihn, nun schon Opfer einer bösartigen Attacke geworden zu sein. Wild geschimpft hat er dann und bis zum Ende des Spieles sehr gereizt auf alles reagiert, was ihm dann noch in die Quere gekommen ist. Auf sein balltechnisches Können hat er sich weiß Gott was eingebildet. In dieser Beziehung war W. eben sehr von sich eingenommen. Aber nicht nur er, auch andere Kollegen hatten immer wieder kleinere oder größere Auseinandersetzungen mit ihm auszufechten. Schon ein schwieriger Typ, in hohem Maße rechthaberisch und streitsüchtig, wirklich kein sympathisches Mitglied dieser Fußballerrunde.
Er ist beim Eingang des Konservatoriums angekommen und während er eine Kollegin begrüßt, eigentlich eine sehr attraktive Person, ist ihm früher gar nicht so aufgefallen, überlegt er, ob sich vor Beginn der Veranstaltung noch eine Zigarettenlänge ausgehen würde.


Schon die Köpfe der neun Schrauben sind sehr klein, ebenso schwarz lackiert wie die Magazinabdeckung. Man muss schon genau hinsehen, um sie alle lokalisieren zu können. Vom Typ her könnten es Senkkopfschrauben sein? Wahrscheinlich hätte sein Vater sie auch so bezeichnet. Ein wahrer Fachmann, wenn Schrauben ins Spiel kamen, Herrscher über ein Reich von einigen Tausenden solcher Exemplare, nach Art und Größe zusammen mit passenden Beilagscheiben sorgfältig einsortiert in beschrifteten, vorwiegend runden Blechdosen von unterschiedlicher Größe (ursprünglich Behälter für Hautcreme, Schuhpasta und Bodenwachs), die übereinander gestapelt ein kleines Wandregal im wunderbaren Reich seiner Kellerwerkstatt ausfüllten.
Auch die Schlitze dieser Schrauben sind winzig und nur mit einem genau passenden Schraubenzieher wird es möglich sein, die nun folgende Aktion sauber und fachgemäß durchzuführen. Auf keinen Fall sollen die zarten Vertiefungen (in noch jungfräulichem Zustand!) Schaden davontragen.
Schon später Nachmittag, vor ihm auf dem Balkontisch hat er seine Utensilien und die anderen noch zu überprüfenden Filmmagazine aufgelegt. Auf der gegenüberliegenden Feuermauer im Osten wandern die Sonnenflecken langsam nach oben. Im wolkenlosen Ausschnitt des Sommerhimmels zwischen Mauern und Dächern haben hauchdünne Kondensstreifen begonnen, sein Tiefblau zu durchqueren. Für die schrillen Rufe der Mauersegler und ihre Kunstflüge ist es noch zu früh. Warmer Windhauch kommt auf, aber zu schwach, um auf seinem Tisch Unordnung anrichten zu können.
Dann liegt ein Häuflein winziger Schrauben, behutsam herausgedreht, ohne Schaden genommen zu haben auf der Papierserviette. Vorsichtig hebt er die Abdeckplatte an, legt sie umgedreht neben die geöffnete Kassette, um den Zustand im Inneren zu prüfen. Oben und unten zwei längliche Hebel in unterschiedlichen Ausformungen, eine zarte Metallfeder, zwei in Vertiefungen eingelegte, genau passende Metallplättchen und auf der rechten Seite der wichtigste Teil - die Magazindichtung. Auf ihr und den sie umgebenden Metallteilen finden sich deutlich sichtbare Spuren von eingedrungenem Staub, vermischt mit getrockneten Fett- und Ölresten. Naturgemäß besonders verschmutzt zeigt sich das zur Dichtung gehörende angeklebte Stoffband auf der Innenseite der Kassettenabdeckung, hat es doch die Aufgabe zu verhindern, dass beim Einführen des Metallschiebers in die Kassette Schmutzpartikel auf seiner Oberfläche in ihr Inneres gelangen und so mit der empfindlichen Schicht des Films in Berührung kommen können.
Hinter seinem Rücken plötzlicher Schlagbohrerlärm. Er wendet sich um und blickt durch die Balkontüre in den hohen, dämmrigen, hinter ihm liegenden Innenraum. An der gegenüberliegenden Fensterwand im Westen hat die tiefstehende Sonne ihre Spätnachmittagsmuster aus gleißenden Strahlenbündeln schon aufgezeichnet.
Mit dem ersten aus der Verpackung gezogenem Putztuch beginnt er die in noch gutem Zustand befindlichen Teile der Lichtdichtung, die, wenn der Schieber herausgezogen wird, Lichteinfall von dem in die Kassette eingelegten Filmmaterial abschirmen soll, zu reinigen, wobei man auf der Hut sein muss, nicht eines der nun frei beweglichen Teile des Magazins unabsichtlich zu berühren. Ein Element dieser Anordnung auch nur ganz gering zu verschieben, würde nach dem Zusammenbau mit Sicherheit eine Funktionsstörung beim Betrieb zur Folge haben.
Nach langem Zögern hat er sich durchringen können, sich von seinen verschiedenen, meist gebraucht erworbenen Fotoausrüstungen zu trennen, nur ein analoges System aus Schweden zu behalten, alle anderen einem Händler, dessen Geschäft er seit Jahren aufzusuchen pflegt, zum Verkauf anzubieten.
Oft landen gebrauchte, gut erhaltene Fotogeräte wieder bei neuen Besitzern, die sie aber in den meisten Fällen aus unterschiedlichen Motiven nicht verwenden und dann werden sie über Jahre in Fototaschen oder Vitrinen gelagert, bis sie eines Tages, wenn die Freude über ihren Besitz endgültig verflogen ist, oder Geld für neue Begehrlichkeiten benötigt wird, wieder beim Händler landen, um dort einem neuen Liebhaber zugeführt zu werden und so geht das Erwerben, Lagern und Wiederverkaufen immer weiter. Aber Funktion und Erscheinungsbild der Geräte sind von diesen Ereignissen, sieht man von natürlichen Alterungsprozessen einmal ab, meist nicht betroffen.
Nach mehrmaliger Überprüfung der korrekten Lage der Teile platziert er die Abdeckplatte vorsichtig auf der Kassette, steckt die leicht eingefetteten Schrauben in die dafür vorgesehenen Öffnungen, um sie möglichst ohne mit dem Schraubenzieher ihre Oberfläche jetzt noch zu verschrammen, zunächst an den gegenüberliegenden Ecken, dann an allen Stellen der Metallplatte anzuziehen (fest, aber nicht zu streng!). Eine unüberhörbare innere Stimme drängt ihn dazu, den korrekten Sitz aller neun Schrauben noch ein letztes Mal zu überprüfen. Mit etwas Bodylotion fettet er dann die Belederung des Magazins ein, die mit zunehmendem Alter dazu tendiert, Haarrisse zu bekommen und sich beim Austrocknen zusammenzuziehen.
Die Kehrgeräusche eines harten Besens, das Auf- oder Zuziehen von Jalousien, der plötzliche Lärm einer schlagenden Tür, unverständlich bleibende Gesprächsfragmente streitender Kinder, noch nie gehörte Handymelodien, Besteckgeklapper und Gerüche von aufgetragenen Speisen erreichen seinen Balkon. In Stockwerken über oder unter ihm ist offenbar die Zeit für mehr oder weniger improvisierte Abendmahlzeiten im Freien gekommen.
Sein Blick streift über den Tisch zu den drei noch zu überprüfenden Kassetten. Die Sonnenflecken an der gegenüberliegenden Feuermauer sind längst verschwunden und alles, was noch bleibt, ist, auf die Ankunft der Mauersegler zu warten.


Ein neuer Besucher hat das kleine Geschäftslokal betreten, allerdings nicht mit einer dieser berüchtigten Umhängetaschen, keinem Rucksack oder Plastiksack ausgestattet, ohne Frage nützliche Hilfsmittel, die von der Mehrheit der hier Eintretenden benützt werden, um Fotogerätschaften zum Zweck des Verkaufs zu transportieren, an denen die Jahre meistens nicht spurlos vorübergegangen sind, gekauft, geerbt, am Dachboden gefunden, geschenkt bekommen, in seltenen Fällen auch ganz einfach gestohlen.
In Form einer kleinen Zeremonie, so als hätte man im Sinn, schon mit dieser Handlung ihren besonderen Wert zu betonen, werden die einst lieb gewonnenen Stücke von ihren Umhüllungen befreit und auf dem verschrammten dunkelgrünen Ladentisch zur Schau gestellt, um so vor den sezierenden Blicken und professionellen Prüfungen des Inhabers möglichst vorteilhaft bestehen zu können.
Nein, das sieht man auf den ersten Blick, dieser Neuankömmling ist nicht in den Laden gekommen, um etwas anzubieten, er hat auch sicher nicht die Absicht etwas zu erwerben. Er steht einfach etwas verloren da, nicht Teil der verschworenen Gemeinschaft, die diese Lokalität frequentiert und sein abwesender Blick bleibt nicht an den um ihn herum zur Schau gestellten fotografischen Begehrlichkeiten hängen.
Auch seine Kleidung unterscheidet ihn von den üblichen Besuchern - weißes Hemd mit sauber gebundener schwarzer Krawatte, wobei das zur ebenfalls schwarzen Hose passende Sakko an diesem heißen Spätsommervormittag ordentlich zusammengelegt vermutlich auf dem Rücksitz seines Autos wartet.
Der untersetzte, rundliche Händler, Herr über die hier zum Verkauf bestimmten alten und neueren fotografischen Geräte, Kameras für unterschiedliche Filmformate, die dafür passenden Objektive und umfangreiches Zubehör, hat den neu Eingetretenen noch nicht wahrgenommen, er ist gerade im Begriff seine Unterhaltung mit einem gebrochen Deutsch sprechenden Mann aus dem Osten Europas zu beenden.
Nein, soviel könne er auf gar keinen Fall zahlen, meint er, auf die Tischplatte gestützt, auch lasse sich so etwas heutzutage nur mehr sehr schwer verkaufen. Es gebe dafür einfach zu wenig Interessenten. Er schiebt das Gehäuse der russischen Kleinbildkamera zusammen mit dem kurzen Teleobjektiv, die beide schon bessere Zeiten gesehen haben, über die Tischplatte zu dem enttäuscht dreinschauenden Anbieter, der in einem letzten Versuch zu verstehen gibt, dass er bereit wäre, sich auch mit einer geringeren Summe (als vorhin von ihm vorgeschlagen) abzufinden.
Aber der Ladeninhaber winkt ab, jetzt hat er den Neuankömmling erkannt, lässt den Mann aus dem Osten einfach stehen und schon im nächsten Moment werden die Schultern des Besuchers von fest zupackenden Händen umfasst. Wortlos und bewegungslos stehen sich beide einige Augenblicke lang gegenüber. Dann versucht der stürmisch Begrüßte es mit einem Achselzucken, das unter der Last der Hände auf seinen Schultern nur ansatzweise zustande kommt, zeigt ein Lächeln, das nicht so recht gelingen will, und erklärt, nun sei es aber an der Zeit für ihn aufzubrechen. Sein Gegenüber nickt, während er die Schultern freigibt und versichert, er würde sich sehr freuen, ihn bald wieder hier zu sehen.
Wenige Augenblicke später steht der Mann mit der schwarzen Krawatte beim Ausgang, um dem erfolglosen Anbieter, der seine in Lappen eingewickelte Geräte wieder im Plastiksack untergebracht hat und mit beleidigter Miene im Begriff ist, grußlos des Geschäft zu verlassen, höflich die Türe aufzuhalten.
Nachdem sich die Ladentüre hinter dem ungleichen Paar geschlossen hat, bleibt nur noch der Beobachter dieser Vorgänge gemeinsam mit dem nachdenklich den Kopf schüttelnden Inhaber im Lokal zurück.
Es sei einfach unglaublich, meint dieser dann, mehr zu sich selbst als zu dem Anwesenden, während seine Hand vage in Richtung Türe deutet. Man müsse sich das vorstellen - vor zwei Jahren habe er seinen Vater, dann seine Mutter und einige Monate später auch seine ältere Schwester verloren - Verkehrsunfall. Und nun müsse der Ärmste heute auch noch zum Begräbnis des letzten Mitglieds seiner Familie. Seine jüngere Schwester - bei ihr habe man plötzlich Krebs festgestellt und dann sei alles sehr schnell gegangen - nur wenige Wochen später sei auch sie tot gewesen.
Es sei einfach unfassbar, im Zeitraum von zwei Jahren habe sich das alles ereignet. Bis auf ihn würde mit dem heutigen Tag seine ganze Familie unter der Erde liegen.


Keine weitere Kundschaft lässt sich an diesem schon sehr späten Vormittag blicken. Hinter der Auslagenscheibe rollen zwei Straßenbahnen lärmend aneinander vorbei. Als sie den Blick auf den Gehsteig und die Geschäftsfassaden an der gegenüberliegenden Straßenseite freigeben, bemerkt der im Laden verbliebene Besucher, wie eine bekannte Gestalt, den zusammengerollten Plastiksack unterm Arm, sich dem Eingang des neben der Fotogalerie gelegenen „Vintage Camera“- Geschäfts nähert.
Ihre schwerfälligen Schritte kommen aus der Richtung des nahegelegenen „United Camera“-Ladens. Sein Verkaufsversuch war dort offenbar nicht von Erfolg begleitet. Sollten die Leute von „Vintage Camera“ an seinen Geräten auch keinen Gefallen finden, bliebe als letzte Station in diesem Viertel noch „Mint and Rare“, gleich an der Ecke der nächsten stadtauswärts gelegenen großen Kreuzung.


Der Händler hat sich seinem Besucher zugewendet und will wissen, ob er etwas für ihn mitgebracht habe? Dieser nickt, während er den länglichen Leinensack öffnet, den er gleich nach seinem Eintritt auf dem Verkaufspult abgelegt hat, zieht ein Stativ heraus und reicht es dem hinter dem Bildschirm Sitzengeblieben, der nun aufsteht, die Stativbeine auszieht, um sie dann vor dem Tisch auf dem Boden aufzustellen und in Augenschein zu nehmen. Das sei wirklich ein sehr seltenes Exemplar aus Basalt, dieses Material werde nur von einem Hersteller verwendet, würde sich aber hervorragend für Stativrohre eignen.
Sein Gegenüber wundert sich. Er habe immer geglaubt, Basalt sei nur die Markenbezeichnung, dass da wirklich Gestein als Material verwendet werde, daran hätte er nie gedacht.

Die Rohrfasern, in diesem Fall Basalt, werden mit Spezialharz benetzt, anschließend durch einen Hochtemperatur-Kern gezogen, der das Rohr so formt, wie es dann am Ende auch aussieht. Funktioniert genauso perfekt wie bei Karbon-Rohren.

Der Besucher, nach dem Grund gefragt, warum er so ein Stativ überhaupt hergeben wolle, zuckt nur mit den Achseln und bleibt eine Erklärung schuldig.
Der Händler hat das Gerät kurz angehoben - das wäre noch ein durchaus akzeptables Gewicht stellt er fest und man würde auf den ersten Blick erkennen, dass dieses schon einige Jahre alte Basaltexemplar noch bestens in Form sei. Seiner Meinung nach sollte man so ein schönes Stück auf keinen Fall  hergeben, bessere Lösungen könne es da nämlich nicht geben.
Während dieser Ausführungen hat er das Gerät wieder auf die kleinste Länge zurückgesetzt, die Drehverschlüsse festgezogen, es in der Leinenhülle verstaut, um es dann am Ende dem Besucher zu überreichen.

Basalt ist ein basisches (SiO2-armes) Ergussgestein. Es besteht vor allem aus einer Mischung von Eisen- und Magnesium-Silikaten mit Pyroxen und calciumreichem Feldspat (Plagioklas) sowie meist auch mit Olivin.
Basalt wird der Gesteinsgruppe der Vulkanite - magmatische Gesteine, die an der Erdoberfläche entstehen - zugeordnet. Es entsteht bei der Aufschmelzung des Erdmantels - dünnflüssiges Magma erkaltet an der Erdoberfläche oder im Ozean beim Austritt relativ schnell zu Basaltlava. Die Magmen haben bei ihrem Austritt in der Regel Temperaturen. zwischen 900°C und 1200°C.


Oben an der Wand eine Uhr mit Abbildungen von Singvögeln an Stelle der Ziffern und Gezwitscher zu jeder vollen Stunde. Darunter ein hohes Regal mit aktuellen Tageszeitungen, Illustrierten und nachlässig übereinander gestapelten aufwendig ausgestatteten Bildbänden, in denen von berühmten Zügen aus längst vergangenen Epochen, prächtig ausgestatteten Schlaf- und Speisewagen, vom technischen Wunderwerk der Dampflokomotive, den beeindruckenden Vertreterinnen aus ihrer vergangenen Epoche und von grandiosen Leistungen der Ingenieure beim Bau legendärer Bahntrassen berichtet wird.
Die Gäste dieser Lokals tendieren dazu, dieses Angebot hier in die wunderbare Welt der Technikgeschichte und Ingenieurskunst einzutreten, einfach nicht wahrzunehmen, interessieren sich dagegen mehr für diverse Eissorten und spezielle Kreationen, die dieses Etablissement bietet.
Der schon etwas ältere Besitzer des Eiscafés - sorgfältig ausrasiertes Kinnbärtchen - und seine noch immer attraktive Frau stehen hinter der Kaffeemaschine. Ihre Unterhaltung führen sie auf Italienisch. Die Vogelstimmenuhr beginnt 12.00 Uhr Mittag zu zwitschern.



Für Walter Plörer († 2016)

Funny Soccer Ball

(Juli 2011 - überarbeitet 2022) 

                

Ein makabres Beispiel, wie Vernichtung und blühendes Leben zusammenfinden können, zeigt sich in Luang Prabang (Laos). Aus aufgestellten Blindgängern US-amerikanischer Fliegerbomben „explodieren“ farbenprächtige Blumenarrangements!


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1

Die Menge hat den spärlichen Schatten unter den zerzausten Bäumen am  Flussufer verlassen und bewegt sich nun auf die aus rohen Holzbrettern zusammengezimmerte große Plattform der Fähre zu, in der Absicht sie mit Rädern, Mopeds und Unmengen von Gepäckstücken zu erobern.

Bei dieser Besetzung fallen ihm auch zwei Einheimische auf, die sich mit einem eigenartigen, offenbar sehr schweren Gefährt abmühen. Er blickt ihnen nach, verliert sie kurz darauf aus den Augen – zu viele Passagiere drängen sich bereits auf dem in der prallen Sonne liegenden Deck, das er, wenn möglich, auch noch erreichen möchte.

Das Fährboot hat begonnen sehr gemächlich vom Ufer abzulegen und die Überquerung der breiten Wasserstraße in Angriff zu nehmen. Nicht die kleinste Wellenbewegung, keine Strömung stört seinen Kurs. Fast unwirklich erscheint dieses sanfte Dahingleiten auf spiegelglatter Oberfläche.

Vor der Öffnung eines improvisierten Holzverschlages am rückwärtigen Ende des Bootes hat sich ein korpulentes, bärtiges Mitglied der Besatzung niedergelassen und bearbeitet Gemüse, das dann nach und nach in einem großen, von Ruß geschwärzten Topf landet. Hier dürfte sich, so vermutet er, neben der Koch- auch die Schlafstelle der Crew befinden.

Unter dem Holzboden müht sich ein altersschwacher Dieselantrieb ab, dessen monotones Tuckern ab und zu von ächzenden Aussetzern unterbrochen wird.

Einheimische lehnen an den Fahrzeugen und beschäftigen sich mit ihren Mobiltelefonen. Touristen halten Ausschau nach goldglänzenden Tempelanlagen, die noch sehr weit entfernt am anderen Ufer aufzutauchen beginnen, erfrischen sich mit zum Verkauf angebotenen Getränken und nützen die Überfahrt, um Ordnung in ihre Rucksäcke und Taschen zu bringen. Bereits Erschöpfte erholen sich von den Strapazen eines anstrengenden Tages, liegen von Sonnenbrillen geschützt, ausgestreckt in unbequemen Deckstühlen, während ihre Hände in alter Gewohnheit Gepäckstücke festhalten.

Nur wenige Schritte von ihm entfernt hat die sehr jugendlich wirkende Begleiterin dieses auffallenden Fahrzeugs gerade die Verhandlungen mit dem Fahrkartenmädchen beendet. Irritiert und etwas verärgert muss auch sie einen Geldschein herausrücken. Mit fahrigen Bewegungen versucht sie ungebändigte dunkle Haarsträhnen wieder unter ihrer weißen Schirmkappe unterzubringen. Schmale Hüften und lange Beine zeichnen sich unter dem dünnen Stoff des geschlitzten, fast bodenlangen Sommerkleids ab.

Ihr nun hinter dem Sitz des Steuermanns abgestelltes Vehikel besteht aus einem längst in die Jahre gekommenen Fahrrad und einem daran angehängten völlig verrosteten Anhänger mit windschiefen Rädern und völlig abgefahrene Reifen.

Auf seiner Ladefläche steht ein offenbar sehr schweres, verbeultes, oben offenes Fass. Der Inhalt dieses rostigen Metallbehälters ist von seinem niederen Sitzplatz aus freilich nicht auszumachen.

Hinter einer Gruppe unruhig hin- und hertänzelnder Jugendlichen, die sich dabei  lautstark unterhalten, lehnt die mädchenhaft schlanke Person - unbeeindruckt von diesen hektischen Aktivitäten - erschöpft an der wackeligen Lenkstange des Fahrrads.

Kurzentschlossen hat er seinen Sitz - einen altersschwachen Hocker - verschoben, um bessere Sicht zu bekommen, den Oberkörper angehoben und reckt seinen Hals, um von seinem nun günstigeren Blickwinkel aus etwas mehr sehen zu können als braungebrannte Füße und violett lackierte Zehennägel in staubigen Sandalen.

Sie wendet sich an ihren athletisch gebauten, schon etwas älter wirkenden hinzugekommenen Begleiter. Der schwarze Stoff ihrer Schutzmaske, die sie nun vom Hals über Mund und Nase gezogen hat, bewegt sich leicht, wenn sie mit ihm spricht.

Der trägt einen schon in die Jahre gekommenen Tropenhelm, geht auf ihren Redeschwall nicht ein, wirkt ernst und verschlossen, lehnt am Geländer, raucht eine gerade erst angezündete, zwischen die Lippen geschobene, selbst gedrehte Zigarette und streicht mit den Handflächen immer wieder automatisch über sein verschwitztes T-Shirt, auf dem ein geflügelter Drache in ausgewaschenen Farben seine Zähne fletscht.

Unmerklich hat man sich dem gegenüberliegenden Ufer mit seiner steil nach oben führenden Fahrbahn genähert.

 

Nachdem die Fähre nach einigen Manövern endlich angelegt hat, bleibt er zunächst entspannt auf seinem Hocker sitzen und sieht zu, wie die Passagiere ohne Eile beginnen, das Deck zu räumen. Die chinesischen Fahrräder und Mopeds sind mit ihren Lenkern schnell am Ufer angekommen. Aber die asphaltierte Straße von der Anlegestelle zur Stadt führt so steil am Ufer hinauf, dass offenbar keines dieser Fahrzeuge in der Lage ist, diese sehr lange Steigung weder mit Muskel- noch mit Motorkraft zu bewältigen. So werden sie von ihren Fahrern, während sie sich angeregt miteinander unterhalten, gemächlich nach oben geschoben.

Für ihn wird es Zeit, sich den letzten Touristen anzuschließen, die gerade dabei sind, mit ihrem Gepäck die Plattform in Richtung Ufer zu verlassen.

Auch der Mann mit der auffallenden Kopfbedeckung und die junge Maskenträgerin haben ihr skurriles Transportmittel samt Ladung vorsichtig auf festen Boden manövriert. Ihr langes, geschlitztes Kleid hat sich dabei im Rad des Anhängers verfangen. Sie bückt sich, um den eingeklemmten Stoff leichter lösen zu können, lässt dabei ihren braungebrannten Oberschenkel sehen und löst geschickt den eingeklemmten Stoff. Nun kann damit begonnen werden den vor ihnen liegenden Anstieg in Angriff zu nehmen.

Die ersten Meter der ansteigenden Fahrbahn haben sie schnell hinter sich gebracht. Aber dann werden ihre Schritte langsamer.

Vorne am Fahrrad stemmt sich die ganze weiblichen Energie gegen die Lenkstange. Hinten am Wagen schiebt ihr Helfer mit vollem Einsatz, hält die muskulösen Arme durchgestreckt, während seine schmutzigen Hände mit aller Kraft gegen das Fass drücken.

Als der Beobachter dieser Szene das unter der Last hin und her schwankende Fahrzeug eingeholt hat, haben die angestrengt Schiebenden erst einen kleinen Teil der Steigung bewältigt.

Am rechten hinteren Ende des Wagens ist Platz für ihn. Nun kann er den Inhalt des Behälters erkennen und ihm wird klar, dass er sich nun auch ordentlich ins Zeug legen muss, um mitzuhelfen dieses bis an den Rand mit Altmetallteilen angefüllte Fass nach oben zu befördern.

Der Tropenhelm ignoriert die plötzlich an seiner Seite aufgetauchte Verstärkung, hat für die gutgemeinte Tat keine positive Reaktion übrig, hält den Kopf gesenkt und fixiert stur den Asphalt unter dem Anhänger, während Schweiß über sein Gesicht rinnt und von seinem Kinn tropft.

Die nunmehr maskenbefreite jugendliche Kraft vorne beim Rad hat offenbar die unerwartete Unterstützung bemerkt und dreht sich, während sie weiter anschiebt, zu dem neu hinzugekommenen Helfer um.

Aber sehr schnell muss sie sich wieder nach vorne wenden und er blickt, während er mit einer Hand die ersten Schweißtropfen von der Stirne wischt, an ihren arbeitenden Schultern und dem schmalen sich kraftvoll bewegenden Rücken vorbei zum noch immer weit entfernten Ende der Steigung.


Melonen, Kokosnüsse, Bananen und andere Früchte werden unter sich leicht bewegenden Plastikfolien improvisierter Sonnendächer zum Verkauf angeboten. Kleine Spieße mit gebratenen, fetttriefenden Fleischstückchen, Flaschen und Dosen - die übliche Bandbreite der weltweit gehandelten Getränkemarken, Flip Flops in allen Farben, alte und neue Opiumpfeifen, verschiedene Arten von Schlössern und Schlüsseln, Buddhastatuen in allen Größen, aus unterschiedlichsten Materialien angefertigt, Batterien, deren beste Verbrauchszeiten wahrscheinlich längst abgelaufen sind, goldglänzende, billige Quarzuhren und chinesische Ladegeräte für Mobiltelefone, tausend Dinge vorbereitet für Besucher, die an diesen Herrlichkeiten meistens gelangweilt vorbeizuschlendern pflegen.

Das kleine Wesen liegt ausgestreckt, in leichtem Bogen gekrümmt auf dem improvisierten Tisch, einem morschen Brett, das zum großen Teil von einer nicht sehr sauberen Plastikfolie abgedeckt wird.

In der späten Nachmittagssonne leuchtet sein dichtes Fell in intensivem Rotbraun und die feuerroten Haarspitzen des langen, buschigen Schwanzes bewegen sich unmerklich im kaum spürbaren Windhauch.

Vorder- und Hinterbeine liegen am Körper an, nur die schmalen Pfoten ragen aus der schimmernden Haarpracht des Körpers.

Von seiner Position aus ist der ganze Kopf des Tieres nicht zu erkennen, ein Ohr vielleicht, mehr nicht. Aber das ist auch besser so. Ihn irritiert schon der Anblick der braunroten Flüssigkeit, die sich unter diesem Teil des Körpers auf der Folie ausgebreitet hat.

Die alte Frau hinter dieser zum Verkauf bestimmten Ware hat nur kurz einen prüfenden Blick auf ihn geworfen, dann wendet sie sich wieder dem Geschehen auf der Straße zu.

Nein, er wird sicher nicht nach dem Preis fragen, steht aber noch immer vor dem Tischchen mit dem toten Eichhörnchen und kann sich von dem zur Schau gestellten, intensiv schimmernden, in der leichten Brise zitternden Rotbraun nicht lösen.

Am anderen Ende des Bretts fallen ihm dunkle zunächst undefinierbare Formen auf. Dann erkennte er drei rundliche, flache Fischkörper, auf denen ein Mosaik aus schwarzen Schuppen im schräg stehenden Sonnenlicht funkelt. Ihre zarten Flossen werden erst auf den zweiten Blick sichtbar. Sie sind kaum vom hellgrauen Farbton der Folie zu unterscheiden.

Das gedämpfte Stimmengewirr der Straße wird von einer rasch näher kommenden, aufgeregt Englisch sprechende Stimme übertönt. Ein blondes Mädchen versucht einem jüngeren Knaben etwas zu erklären. Doch der hört nicht zu, schneidet ständig Grimassen und attackiert sie mit seinem Ball.

Er wendet den Kindern den Rücken zu und versucht unwillkürlich, seinen Oberkörper möglichst breit vor den Verkaufsstand zu schieben.

Aber sie ignorieren das spontan aufgestellte Schutzschild vor ihnen und die Angebote dahinter und beginnen eine laut geführte Auseinandersetzung, während sie sich auf die entgegengesetzte Seite der Fahrbahn zubewegen.


3

Zunächst scheint sich die geplante Rundfahrt recht erfreulich zu entwickeln. Die Wege durch die Reisfelder sind gut befahrbar, die Hitze erträglich und das gemietete chinesische Rad fühlt sich zwar etwas schwergängig an, funktioniert aber sonst problemlos.

Die erste Unterbrechung ist mit einer nur von einem Feuerzeug spärlich erleuchteten kurzen Höhlenbesichtigung, sowie einer ausgiebigen Portion sehr heißer traditioneller Nudelsuppe, die in der gegenüberliegenden Behausung von einer ständig auf ihn einplappernden Alten extra für ihn zubereitet wird, verbunden. 

Dann tauchen die ersten Probleme auf. Immer wieder versinken die Räder im weichen Sand oder blockieren im groben Geröll. Eine kleine Gruppe friedlicher Büffel verstellt zum Glück nicht den gesamten Weg. An vielen Abschnitten lauern tiefeingeprägte Furchen und heimtückische Wurzeln, die versuchen ihn und seinen Untersatz aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Die darauffolgende breite Straße präsentiert sich, wenigstens auf den ersten Blick, ganz anders. Asphaltiert, schnurgerade, ohne lästigen Verkehr, still und einsam unter der Hitze flimmernd. Doch dann tauchen besonders in ihrem mittleren Bereich immer neue, tiefe Schlaglöcher auf. Er wechselt zum Fahrbahnrand, wo sich staubiges Gras in den aufgebrochenen, körnigen Belag frisst.

Es wird höchste Zeit für eine kurze Rast, aber die niederen Büsche am Rand spenden kaum ausreichenden Schatten. Kein noch so kleiner Weg führt in die undurchdringliche Wildnis mit ihrem verwachsenen Unterholz und hohem Baumbestand, die sich zu beiden Seiten des Asphaltbands ausbreitet.

Einige Fußgänger, einheimische Burschen mit biegsamen Ruten in den Händen, kommen ihm entgegen. Sie mustern sein Rad und rufen ihm für ihn Unverständliches zu. Ihr grelles Gelächter klingt gar nicht freundlich und er versucht schneller in die Pedale zu treten.

Dann endlich - die Hitze scheint langsam unerträglich zu werden - taucht auf der Straßenseite gegenüber ein schmaler Fußweg zwischen hohen Sträuchern auf.

Der schmale Pfad mündet nach wenigen Metern in eine kleine grasbewachsene Fläche, fast zur Gänze von dicht belaubtem wuchernden Buschwerk und verkrüppelten, kahlen Bäumen eingesäumt.

Er stellt sein Rad ab, flüchtet in den Schatten und nimmt einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche. Im flirrenden Licht der wie leblos vor ihm liegenden Landschaft verläuft ein Weg zwischen einzelnen Baumgruppen, im sonnenverbrannten Gras kaum noch erkennbar und verliert sich schließlich in den Reisfeldern.


Eine seltsame Begegnung vom heutigen Nachmittag will einfach nicht aus seinem Kopf: Der unangenehm holprige Pfad führt durch ein kleines an einem ausgetrockneten Flusslauf gelegenes Dorf. Auf einer schmalen Holzbrücke haben sich einige Mädchen und Buben versammelt, die ihn aufhalten und etwas Geld für die Weiterfahrt - „eine Art Brückenmaut“ - fordern. Er sucht einige Banknoten in Landeswährung - es handelt sich um eine lächerlich geringe Summe - und legt einen ähnlich großen Betrag noch dazu.

Während ein verlegen dreinschauender Junge sein Geld entgegennimmt, mustert er die Gruppe und stellt etwas überrascht fest: Mädchen wie Buben verhalten sich eigenartig, wirken unnatürlich ernst, fast ein wenig apathisch. So lehnen sie, die Blicke gesenkt, wortlos am Geländer. Auch sein versuchtes Lächeln findet keine Erwiderung.


Dann bewegt sich etwas zwischen den gelbbraunen Feldern. Aus dem gleißenden Licht löst sich eine kleine Gestalt, läuft rasch zwischen Bäumen und verdorrten Sträuchern auf ihn zu, kommt schnell näher und bleibt schließlich tief Luft holend direkt vor ihm stehen.

Ein magerer Knabe mit nacktem Oberkörper, bloßfüßig, in ausgebleichten, knielangen Hosen, die noch nass an den dünnen Oberschenkeln kleben. Über seine Waden läuft Wasser in sich verästelnden Rinnsalen.

An einer improvisierten Angelrute hängt ein blauschwarz glänzender Fisch. Er nickt mehrmals und zeigt dabei auf den an der dünnen Schnur baumelnden kleinen Fang. Aus seinen nassen, verfilzten Haaren fallen große Tropfen. Die zugekniffenen Augen haben begonnen, die noch halbvolle Flasche in der Hand des Fremden zu fixieren.

Er und der kleine Fischer stehen sich einige Augenblicke lang bewegungslos gegenüber. Nein, er will diese Beute nicht haben, schüttelt den Kopf und bietet dem Knaben spontan seine Wasserflasche an.

Mit einer heftigen Bewegung wird sie ihm aus der Hand gerissen und der Angler läuft mit Fisch und Geschenk zum Pfad, der zur großen Straße führt. Sekunden später ist er zwischen den Büschen verschwunden.

 


4

Die etwas skurrilen Geschichte ihrer Bekanntschaft beginnt an einem späten Nachmittag in einem buddhistischen Tempelbezirk in der Nähe seiner Unterkunft. Die meist in meditativer Ruhe daliegende Anlagen bieten den idealen Ort für seine  Rundgänge. Diesmal begleiten ihn die Stimmen der Mönche, die dem Vorüberwandernden freundlich zuwinken. Kurz vor der lärmenden Hauptstrasse trifft er auf eine Art Vorhof, eine von allen Seiten von niederen Mauern umschlossene ebene, gemähte Rasenfläche, auf der sich einheimische Buben und Mädchen niedergelassen haben.

Ein etwa gleichaltriger Junge, aus einem Touristenappartement in seiner Nachbarschaft, der ihm auch in der Stadt zusammen mit seiner größeren Schwester über den Weg gelaufen ist, dreht einen Ball nervös in seinen Händen und versucht offenbar völlig erfolglos den um ihn herum Sitzenden etwas zu erklären.

Als er den Neuankömmlingen, der in einer Maueröffnung vor der Rasenfläche stehen geblieben ist, bemerkt, läuft er kurzentschlossen auf ihn zu. Er versuche ein Fußballspiel für die Gruppe zu organisieren. Die Tore auf der Wiese seien schon von ihm mit Kleidungsstücken markiert worden. Aber bei der Zusammenstellung zweier Teams wäre seine Hilfe sehr gefragt, da die Einheimischen kaum Englisch sprechen und ihn auch nur schwer verstehen würden.

Irgendwie gelingt es dann auf dem improvisierten Spielfeld sowohl ein Bubenteam als auch eine Mädchenmannschaft aufzustellen und einige einfache Spielregeln können verständlich gemacht werden. Der zu Hilfe gekommene Spaziergänger wird Spielleiter und das Match kann beginnen.

Völlig unerwartet gelingt es den weiblichen Teilnehmerinnen - die ihre Röcke hochgekrempelt haben, um schneller laufen zu können - sehr rasch den Spielverlauf entscheidend zu bestimmen. Mit flinken Beinen, überraschend präzisem Zusammenspiel und schnellen Attacken können sie den überraschten Gegner in die Defensive drängen, geben ihm kaum Raum für Gegenstöße und so gelingt den entfesselten Mädchen in schneller Folge Tor um Tor.

Die einbrechende Dunkelheit führt dann zum Glück für die bereits schwer im Rückstand befindliche Bubentruppe zum Abbruch des ungleichen Kampfes und mit einem Schlag sind alle einheimischen Beteiligten von der Rasenfläche verschwunden.

Zurück bleibt ein erhitzter, sehr deprimierter Ballbesitzer, der sich auch vergeblich den rasenden Amazonen entgegengeworfen hat und ein Schiedsrichter, der erfolglos versucht den Enttäuschten zu trösten.


„High, high!” In der Entfernung, die der Kleine vorgeschlagen hat, steht er ihm gegenüber, den schon etwas mitgenommen Ball vor seinen Schuhen.  

Die einzige, halbwegs in Frage kommende ebene Fläche, die diese Touristenanlage zu bieten hat, erstreckt sich auf dem verwahrlosten Gelände hinter den Unterkünften. Die Beschaffenheit dieses Bodens lässt kontrollierte Spielzüge nicht zu und erlaubt nur beiläufiges Ballgeplänkel. Betonbrocken und große Kieselsteine liegen im verbrannten Gras. Zwischen Schotter- und Schlackenresten wuchert hohes Unkraut.

Sein nicht allzu scharf geschossener, halbhoher Schuss wird von dem jungen Spieler sicher gefangen und sofort zu ihm zurückgeworfen. „High, high!” Die Hand seines Gegenübers deutet mehrmals gegen die Stirn. Offensichtlich soll beim nächsten Zuspiel sein Kopf zum Einsatz kommen.

Er versucht seinen Schuh unter dem Plastikball so zu platzieren, dass der abzugebende Pass in hohem Bogen und dann ungefähr in Kopfhöhe bei dem schon ungeduldig Wartenden ankommen kann.

Zunächst scheint sein Vorhaben auch zu gelingen. Die farbige Kugel steigt in die Höhe und nimmt Kurs auf den ungeduldig hin und her Tänzelnden. Doch plötzlich, etwa im höchsten Bereich ihrer Flugbahn, scheint sie für einen Augenblick stillzustehen, ihre Oberfläche platzt an einer Stelle krachend auf. Aus dieser Öffnung wächst eine rote Blase, die schlagartig größer wird, um schließlich mit lautem Knall zu explodieren.

Mit unkontrollierter Drehbewegung flattert das zusammengeschrumpfte Bündel in Richtung Boden, ehe es mit einem kurzen Seufzer im staubigen Gras zur Ruhe kommt.

Ein Gärtner, der in einer Anlage am Flussufer rastet, wird von der Explosion aufgeschreckt, beobachtet den Absturz der Ballreste und schüttelt verwundert den Kopf.

Der kleine Fußballer hat sich dem gestrandeten Objekt zunächst vorsichtig genähert, es dann aber voller Neugierde aufgehoben und begonnen die zerstörten Teile der Außenhülle und die aus dem Inneren herausragenden, zerfetzten Überreste der roten Blase zu untersuchen.

Dann kann er sich nicht mehr halten - prustet los - schüttelt sich immer wieder vor Lachen und läuft auf sein irritiertes Gegenüber zu, um ihm nun auch das vollkommen veränderte Aussehen des Sportgeräts aus der Nähe zu präsentieren.

Dieser hält sich für den Verursacher dieses kleinen Unfalls, will vorschlagen für ihn einen neuen Ball zu besorgen, aber gegen diese explodierenden Lachanfälle kann er sich nicht durchsetzen. „Funny soccer ball!” ruft der Junge immer wieder begeistert und seine großen, dunklen Augen lachen mit.


5

Das Fährboot hat die Insel fast erreicht. Sein schrill knatterndes Motorgeräusch wird deutlich leiser und geht rasch in gedämpftes, ungleichmäßiges Blubbern über. Die Schiffsschraube am Ende der langen Stange wird manchmal sichtbar und sprudelt nur noch langsam im aufschäumenden Wasser.

Der lange Kahn beschreibt einen weiten Bogen, nähert sich seinem Ziel und gleitet mit der Längsseite behutsam am Ufer entlang. Sein hölzerner Rumpf knirscht im Sand, bevor er leicht schaukelnd zum Stillstand kommt. Der am Heck sitzende Lenker stellt den Motor ab, steigt gekonnt aus dem Fahrzeug und schiebt, bis zu den Oberschenkeln im Wasser stehend, das vollbesetzte Boot mit dem Bug voran an sich vorbei möglichst nahe ans Ufer.

Unter den bis jetzt ruhig dasitzenden Touristen macht sich mit einem Schlag hektische Aktivität bemerkbar. Man rafft seine Habseligkeiten zusammen und versucht vorsichtig sich im unkontrolliert bewegenden Boot zu erheben. Einige Passagiere massieren ihre eingeschlafenen Beine und können nur mit großer Mühe von ihren unbequemen Sitzgelegenheiten aufstehen. Unter dem niederen, verschlissenen Sonnendach ist die Bewegungsfreiheit sehr eingeschränkt. Erfahrene Reisende lassen in dieser Situation die meist windschiefe Konstruktion nicht aus den Augen. Zu oft haben sie sich schon an den scharfen Kanten der Holzverstrebungen den Kopf angeschlagen.

Vorne beim Bug stapeln sich Taschen, Koffer und Rucksäcke. Bei jedem Schritt, jeder Körperbewegung schwankt der schmale Bootsrumpf. Alle Insassen wollen nun möglichst rasch zu ihrem Gepäck vordringen.

Ist das im Gedränge endlich gelungen, steigen sie, so gut es eben geht, von der Fähre und versuchen, möglichst ohne nass zu werden, das Ufer zu erreichen.

In der trockenen Jahreszeit ragt die Insel besonders weit aus dem Fluss. Der Anstieg vom Landeplatz zum oben gelegenen Plateau ist steil und so wühlt sich eine kleine Karawane mühsam durch nachgiebigen Sand hinauf zum festen Beton.

Einige der oben Angekommenen inspizieren irritiert die Räder ihrer Koffer und Reisetaschen. Sie funktionieren nicht mehr. Nasser Sand hat sie verklebt. Ohne Mitleid sehen ihnen die Rucksackträger dabei zu.

Die an Land gegangenen älteren Einheimischen beladen bereitstehende Mopeds mit eingekauften Waren. Jugendliche Heimkehrerinnen werden von ihren, schon auf knatternden Fahrzeugen wartenden Freunden lautstark begrüßt.

Die Fremden behalten ihre abgestellten Gepäckstücke im Auge, während sie die Lage ihrer vorbestellten Unterkünfte auskundschaften oder damit beginnen sich nach einer noch freien einfachen Bambushütte umzusehen.

Vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Nacht verkehren die langen, schmalen Boote der Inselbewohner. Die knatternden Geräusche ihrer Außenbordantriebe sind so untrennbar mit dem Leben auf diesem Archipel verknüpft, dass ihr Lärm nach kurzer Zeit auch von fremden Besuchern nicht mehr wahrgenommen wird.

Das direkt am Ufer gelegene Strandcafé bietet einen weiten Rundblick über unzählige Inseln in einem Strom, der sich in diesem Abschnitt zu einem riesigen See, dessen anderes Ufer von diesem Standort gar nicht mehr ausgemacht werden kann, ausgedehnt hat. Die meisten aus dem Fluss aufragenden Erhebungen sind von dichtem Urwald bedeckt, deren Bäume und Sträucher oft bis ins Wasser des Uferbereichs hinein wuchern.

Die Gäste können sich unter dem riesigen, auf allen Seiten von Geländer umgebenen Flugdach niederlassen, an dessen Decke einige Ventilatoren hängen, die, bei ausreichender Stromversorgung, nicht nur die feuchtschwüle Atmosphäre erträglicher gestalten, sondern auch die kleinen Blutsauger, die mit Einbruch der Dämmerung ihre Angriffe starten, vertreiben.

Dachkonstruktion, Boden, Tische und Stühle dieser dahindämmernden Oase zeigen die unterschiedlichsten lebhaft gemaserten Rot- und Brauntöne tropischer Harthölzer.

An der zum Wasser hin gerichteten Seite des Lokals stapeln sich auf leicht erhöhten Podesten ausgebleichte Kissen und Polster - Sitz- und Lagermöglichkeiten besonders für jüngere Leute, die es locker und entspannt schaffen, auf den dazwischen aufgestellten niederen Tischen nicht nur Getränke und Speisen, sondern auch verschiedene Arten von weichen und härteren Drogen zu konsumieren.

 


6

Er geht zu dem Tischchen neben dem Kücheneingang, auf dem neben oft nicht funktionierenden Kugelschreibern, eine große, abgenützte Ledergeldtasche und ein von Klebebändern zusammengehaltener chinesischer Taschenrechner auf ihren nächsten Einsatz warten.

Dort pflegt er seine konsumierten Getränke und Speisen zu bezahlen, da es meistens viel zu lange dauert, bis eine Angestellte Zeit findet, an seinen Tisch zu kommen.

Nur sehr wenige Gäste halten sich unter dem freistehenden Dach auf. Zwei noch sehr junge Serviererinnen sitzen am Boden vor einem ohne Ton laufenden Farbfernsehgerät, auf einer verstaubten, sonst leeren Glasvitrine aufgestellt und bestaunen regionale Tanzdarbietungen.

Er bleibt dicht hinter ihnen stehen, aber sie sind von den bewegten Bildern so fasziniert, dass sie seine Anwesenheit gar nicht bemerken, besonders jetzt, wo ein smarter, junger Moderator mit einem lautlosen Redeschwall eine blasse, einheimische Künstlerin in einem rosafarbenen Kleid präsentiert.


Ein älteres Paar taucht vor dem Lokaleingang auf. Die rasch vorausgehende, sportlich gekleidete Urlauberin bleibt abrupt stehen.

Beim Fahrradverleih am gegenüberliegenden Ende des weiten Platzes hat sie etwas Auffälliges entdeckt, deutet mehrmals in diese Richtung und wendet sich an den hinter ihr wartenden, wohlgenährten Begleiter.

Dunkelhäutige, magere Kinder, zwei größere Mädchen und ein kleinerer Bub sind dort intensiv mit dem Inhalt eines hinter den Leihrädern aufgestellten großen Abfallkorbs beschäftigt.

Der nun informierte, aber nicht besonders interessiert wirkende Sonnenbrillenträger hat in aller Ruhe begonnen nach einer Banknote zu suchen, reicht sie seiner ungeduldig wartenden Gefährtin, bekommt den Schein aber im nächsten Moment wieder zurück. Ein anderer Betrag muss angeboten werden, der dann von ihr akzeptiert wird.

Die aus dem bauchigen Behälter aussortierten Schachteln und Kartonteile werden von den Jugendlichen zerlegt und aufeinander geschlichtet, während der Jüngste des Trios nach leeren Getränkedosen sucht, um sie dann in einem großen Plastiksack zu sammeln. Die Mitglieder der Gruppe sind so in ihrer Tätigkeit gefangen, dass sie die nun hinter ihnen Angekommene gar nicht bemerken.

Kurzentschlossen hält sie dem zu Boden schauenden Kleinen den Geldschein vor die Nase. Jetzt blicken die Mädchen überrascht auf die  Besucherin.

Der Knabe nimmt die Banknote und gibt sie sofort an die neben ihm kniende Helferin weiter. Dann verziehen sich seine Mundwinkel zu einer verächtlichen Grimasse, während seine flinken Finger erneut beginnen den Abfallbehälter zu durchsuchen.


Im Lokal sitzen die Fernsehbegeisterten noch immer vor dem Bildschirm und verfolgen gebannt weitere Darbietungen, die nach wie vor ohne Ton vor ihnen ablaufen.

Auf einem über dem Gerät kunstvoll drapierten reich verzierten Tuch meditiert ein kleiner Buddha aus Metall. In einem daneben stehenden niederen Keramikgefäß steckt ein Bündel unverwendeter Räucherstäbchen. Aus seiner Mitte wächst eine weiße Papierlilie.


7

Unten am Landeplatz sind inzwischen alle Touristen in der Fähre untergekommen. Ihr Gepäck wurde vom Bootsführer schon im vorderen Teil verstaut. Versunken beschäftigen sie sich mit der Ausbeute ihrer Mobiltelefone und Digitalkameras, oder studieren schon stark gebrauchte Reiseführer. Der Motor tuckert im Leerlauf. In wenigen Minuten wird ihr Boot zum gegenüberliegenden Flussufer aufbrechen.

Dort angekommen wird sich die Kolonne von Urlaubern mit ihren Gepäcksstücken über den von Abfall übersäten Strand nach oben zu den schon wartenden großen und kleineren Bussen bewegen, deren Schwachstellen seit Jahren versteckt, oder offen sichtbar vor sich hin kränkeln.

All diese profillosen Reifen, heißlaufenden Bremsen, unrund stotternden Dieselantriebe, ausgeleierten Lenkungen, kaputten Stoßdämpfer, löchrigen Dachgepäcksnetze und nicht funktionierenden Klimaanlagen werden es trotzdem immer irgendwie schaffen, dass die Passagiere am Ende wohlbehalten, ohne größeren Ärger und mit all ihren Habseligkeiten halbwegs pünktlich in ihren neuen touristischen Welten ankommen können.

Ein junger Inselbewohner mit einem feuerspeienden Drachen auf der Vorderseite seines T-Shirts überquert den unebenen, zum Ufer abfallenden Betonboden des schattenlosen Platzes, einen oben zugehaltenen Plastikbeutel mit einer orangefarbenen Flüssigkeit vor sich her tragend. Irgendwo unten am Ufer wird er in ein Boot steigen und sie vorsichtig in den Tank des kleinen Motors einfüllen.

Gegenüber beim Supermarkt lässt sich kein Mensch blicken. Im Internetcafé summen alle Computer im Leerlauf. Die vertrockneten Blätter der Palmen rascheln in der aufkommenden Brise.

Der Himmel zeigt ein makelloses Blau, kein Kondensstreifen, keine Wolke. Nur über den Bergen im Norden braut sich etwas zusammen, noch sehr weit entfernt, aber schon gut erkennbar.

Ein aus schwarzgrauen Wolkenbänken hervorwachsender, aufgetürmter Gebirgsstock aus dunklen, zusammengeballten Blautönen, die in den oberen Regionen in hellere Variationen übergehen, während darüber die fein gezackten, leuchtend weißen Ränder seiner Gipfel explodieren.




(Für meine 2011 verstorbene Mutter)